Achtsamkeit – Hype oder Hilfe?

3 typische Reaktionen, wenn du im Gespräch „Achtsamkeit“ sagst

1. „Geh mir weg mit diesem Esoterik-Kram“

So begegnest du dem Achtsamkeitshype: Im günstigsten Fall erntest du ein mildes Lächeln von deinem Gesprächspartner und eine humorvolle Anspielung auf beseelt in der Natur tanzende Hippies, die zwischendrin immer mal wieder einen Baum umarmen.

Schwieriger wird es, wenn bei deinem Gegenüber verdeckte Angst vor allem, was nicht ins eigene Weltbild passt, mit ins Spiel kommt. Je nach Gemüt triffst du entweder auf kategorisches Abblocken oder auf eloquenten Angriff. Beispiel hierfür ist der Inhalt des Artikels „Achtsamkeit hat ihren Preis“1 von Burkhardt Gorissen. Hier sollte man beim Lesen schon ein wenig in Achtsamkeit geschult sein, um dem Raum zwischen Reiz und Reaktion genügend Platz zu verschaffen, loszulassen und dem Autor zu wünschen, er möge glücklich sein.

Die Ursache dafür, Achtsamkeit mit dem Etikett „Achtsamkeitshype“ so vorschnell in die Esoterik-Ecke zu schieben, mag am zuweilen unachtsamen Umgang mit dem Thema liegen. Es ist unumstritten, dass einige Marketingstrategen die Sehnsucht der Menschen nach sich selbst gnadenlos ausnutzen. Dafür benutzen sie husch, husch die gängigsten Klischees, weil’s dann schneller geht: Stapeln wir einfach ein paar Steine am Strand und schon klappt’s mit der inneren Einkehr.

Auch Achtsamkeit Praktizierende tragen nicht selten selbst dazu bei, dass ihre Umgebung sich nur noch kopfschüttelnd abwendet, weil sie (zu) euphorisch darüber sprechen, wie sehr ihnen die Achtsamkeit doch hilft.

Dies geschieht besonders bei Anfängern, die Jon Kabat-Zinn dazu auffordert, „auf den natürlichen Impuls zu achten, mit anderen Menschen über Ihre Meditationspraxis zu sprechen oder beiläufig zu erwähnen, dass Sie gerade mit der Meditation begonnen haben.“Und er empfiehlt weiter: „Sie lassen Ihr Leben, Ihre Handlungen und Haltungen für sich sprechen und müssen keine zufriedenstellende Geschichte erzählen – weder anderen noch sich selbst“.

Dann mag es geschehen, dass die Skeptiker eher den Taten als den Worten glauben und doch neugierig werden.

2. „Da habe ich keine Zeit für“

Keine Zeit zu haben ist ja schick. Und so ist die zweite Reaktion auf den „Achtsamkeitshype“ ebenso typisch bei den Menschen, die ihre Wichtigkeit allzu oft an der Quantität der Dinge festmachen, die sie alle im Laufe eines Tages erledigen.

Dass dies nicht nur eine gängige Management-Attitüde ist (mehr dazu unter Punkt drei), sondern auch vor den gestressten omnibeschäftigten Müttern nicht halt macht, beschreibt Barbara Schöneberger in ihrem Artikel über “Geh mir weg mit Meditation! Fünf Gründe, warum Achtsamkeit nervt“3. Das Bild des Artikels tut sein Übriges dazu, dass die Mütter hübsch im Multitasking-Modus bleiben, um ja nicht als rauchende Schlampe mit Lockenwicklern auf dem Sofa  zu enden.

Wissen Sie, wie ich das vor 28 Jahren gemacht habe, Frau Schönberger? Ich führte bei meinen Kindern das Ritual der “Pulla-Pause“ ein: 30 Minuten am frühen Nachmittag, in denen die zwei gemeinsam auf ihrer Spieldecke ihre Pulla nuckelten und ich Zeit für mich hatte. Und die verbrachte ich bestimmt nicht damit, das Freizeitprogramm für die beiden durchzutakten.

Heute wäre das eine klassische Gewohnheit. Wie Gewohnheiten helfen, Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren, gibt es hier zu lesen.

3. „Bei uns funktioniert das nicht“

Peter Bostelmann, Chief Mindfulness Officer bei SAP hielt auf der MIND 2019 einen Vortrag darüber Warum SAP meditiert? Auch er nannte den 3. Punkt als häufige Antwort beim Austausch mit anderen Unternehmern.

Die bereits erwähnte Attitüde der vielbeschäftigten Manager gerät ins Wanken, wenn Achtsamkeit in Unternehmen mit Damen oder Herren im Businesslook, die im Lotussitz auf dem Schreibtisch meditieren, gleichgesetzt wird. Auch warnt Bostelmann vor der Anwendung anderer gängiger Achtsamkeitsbilder im geschäftlichen Kontext, da gestapelte Steine oder ein Tropfen im See eine Art von Realitätsflucht suggerieren, die tatsächlich kontraproduktiv für Unternehmen sein kann.

Hilfreicher ist es, Achtsamkeit als Normalität in der Unternehmenskultur zu etablieren. Beginnend bei den Führungskräften, die Achtsamkeit vorleben, sollten Unternehmer Achtsamkeitspraktiken im Team so selbstverständlich integrieren wie Firmen-Fitness oder gesundes Kantinenessen.

Dadurch schwindet bei Unternehmern und Führungskräften, denen Erfolg, Leistung und Produktivität wichtig ist, mehr und mehr die Angst, zu “verweichlichen“ und vor lauter Gelassenheit und Mindfulness gar nichts mehr zu tun. Sie erkennen vielmehr, dass sie durch Achtsamkeit mehr Energie und Zugang zu neuen Quellen der Motivation erhalten. Dadurch lassen sich Ziele und Projekte gesünder und effektiver umsetzen.

Fazit: Achtsamkeit – Hype oder Hilfe?

Beides stimmt!

Achtsamkeit ist ein Hype, wenn unreflektiert Klischees bedient werden, egal ob bewusst oder unbewusst. Ebenso ist es nicht hilfreich, wenn durch ein Zuviel an Kommunikation über die Achtsamkeit eher Widerstand angefacht, statt Interesse erzeugt wird.

Achtsamkeit ist eine Hilfe, wenn sie „als (…) Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt“ 4 angewandt wird.

Sie ist eine Hilfe, wenn sie nicht als bloße Entspannungsübung, Mittel zur Flucht oder reine Technik zum „besser draufkommen“ verstanden wird, sondern als ein fortlaufender Prozess. Allerdings: Wer einmal auf einem Pferd gesessen hat, ist noch lange kein Reiter. Und wer einmal meditiert hat, ist noch lange kein achtsamer Mensch.

Doch jeder Prozess hat einen Anfang. Also, wenn du Lust hast – auf geht’s: Du musst – nein: Du darfst 😉 lediglich drei tiefe Atemzüge nehmen

  1. Spüre deinen Atem
  2. Entspanne deinen Körper
  3. Frage dich: Was ist in diesem Augenblick wirklich wichtig?

 

 

 

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1https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Achtsamkeit-hat-ihren-Preis;art310,200897 ; Abruf: 13.10.2019

2Kabat-Zinn, Jon (2016). Achtsamkeit für Anfänger. Freiburg: Arbor Verlag.

3https://www.brigitte.de/barbara/zuhause/geh-mir-weg-mit-meditation–5-gruende–warum-achtsamkeit-nervt-11263162.html; Abruf: 13.10.2019

4Kabat-Zinn, Jon. (2013). “Gesund durch Meditation“. München: Droemer Knaur.

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